Wandern um den Schweriner See (dritter Teil)
Am dritten Tag weckte mich die Morgensonne. Ich öffnete das Fenster meines Zimmers in der Jugendherberge Schwerin, blickte auf den Schweriner See, sah ihn glitzern, sah die Sonnenstrahlen durch die Bäume blinzeln – und hatte trotzdem schlechte Laune.
Tag 2: Ohne Dampf kein Mampf!
Zippendorfer Strand – Schweriner Schloss – Pfaffenteich – Ziegelsee –Wickendorf – Seehof – Hundorf – Lübstorf (22 Kilometer) - Fotos zu allen beschriebenen Orten gibt es in der Galerie „Schweriner See“
Es war, als würde mich dieser herrliche Morgen nicht an-, sondern auslachen. Denn am Abend zuvor hatte mein Dampfer … also Ihr wisst schon, dieses E-Zigaretten-Dings … seinen Geist aufgegeben. Ich atmete tief ein. Statt aber die frische, klare Luft zu genießen, jammerten meine Lungen dem nikotingeschwängerten, nach Lakritze schmeckenden und nach Jahrmarkt duftenden Dampf hinterher, mit dem ich sonst bei einem Halbliterpott Kaffee meinen Tag beginne.
Kein Nikotin also und auch kein Koffein, denn dazu müsste ich ja erst in die Kantine schlurfen. Bei einem so schlechten Start in den Tag fehlte mir aber der Nerv, mich zwischen fröhlich lärmende Schulkinder zu setzen. Also würde mein dritter und letzter Wandertag auch erst mal ohne Frühstück beginnen. Ohne Dampf kein Mampf.
Über den Franzosenweg wanderte ich missmutig in Richtung Stadtzentrum. Rechts der Schweriner See, links prächtige Villen. Wenn ich nicht gerade darüber nachdachte, ob mein kaputter Dampfer ein Zeichen war, dieser Sucht endlich abzuschwören, dann fragte ich mich, wer hier früher wohl gelebt hatte. Damals, als die Mecklenburger Fürsten im Schweriner Schloss residierten. Ein Nachhall dieses Luxus war noch immer zu spüren, mehr noch, selbst heute würde es sich wohl jemand wie ich kaum leisten können, hier zu wohnen.
Beim Schweriner Schloss angekommen, hätte ich im Gegensatz zu den „guten alten Zeiten“ aber sehr wohl durch den wunderschönen, gepflegten Schlossgarten schlendern dürfen. Ein Rest Morgennebel lag noch auf dem Rasen und nur wenige Besucher hatten so früh hierher gefunden. Das lag sicher auch am aufziehenden Regen. Mich störte das eigentlich nicht, ich mag einsame Parkanlagen lieber als von Touristen überfüllte. Aber mein Fuß schmerzte noch immer (siehe Tag 2), ich litt unter Koffein- und Nikotinentzug, langsam aber sicher meldete sich Hunger und außerdem hatte ich sowohl den Schlossgarten als auch den Schlosspark bereits mehrfach besucht. Das war dann aber auch die einzig akzeptable Entschuldigung, sich dieses gartenbauliche Meisterwerk entgehen zu lassen, das seinen barocken, französischen Vorbildern in nichts nachsteht.
Für mich war Essenszeit angesagt und während ich im „Cafe Prag“ in der Schlossstraße den ersten heftigen Regenschauer des Tages abwartete und dabei das improvisierte vegane Frühstück mit gaaaanz viel Kaffee genoss, entschloss ich mich zu einem Abstecher ins Schlossparkcenter. Irgendwo in diesem großen Einkaufszentrum musste es einfach einen neuen Dampfer geben. Sollte das Versagen des alten wirklich ein Zeichen gewesen sein, würde ich es ignorieren. Ich hatte heute morgen bereits genug gelitten.
Endlich! Mit vom Kaffee klaren Kopf und nikotingeflashten Lungen ging es weiter durch Schwerin. Auch wenn die Strecke nicht am Schweriner See entlang führte, musste ich auf Wasser nicht verzichten. Der Pfaffenteich im Zentrum ist zwar zu klein, um sich See zu nennen, dafür aber hinreißend schön. Unter den ihn umgebenden historischen Gebäuden fällt besonders das festungsartige Arsenal ins Auge. Wie viele der schönsten Bauten Schwerins wurde es vom Hofbaumeister Georg Adolf Demmler entworfen. Ursprünglich Zeughaus, dient es heute nach wechselvoller Geschichte als Sitz des Innenministeriums der Landeshauptstadt Schwerin.
Nächste Station – ein weiterer der berühmten sieben Seen Schwerins: der Ziegelsee. Von der Innenstadt führte der Wanderweg an seinem Ufer durch Gartenanlagen und den Park der HELIOS Kliniken Schwerin wieder aus der Stadt heraus. Ich war froh, Schwerin hinter mir zu lassen. Nichts gegen eine Stadttour, besonders wenn sie kulturell so viel zu bieten hat wie Schwerin. Aber wenn ich wandere, dann möchte ich in der Natur sein.
Bei Frankenhorst, vorbei am „BEST WESTERN Seehotel“, ging es dann wieder zurück an den Schweriner See. An den Außensee, um genau zu sein. Denn hier ganz in der Nähe teilt der Paulsdamm den Schweriner Innen- vom Außensee. Großherzog Paul Friedrich von Mecklenburg-Schwerin hatte ihn an der schmalsten Stelle zwischen West- und Ostufer aufschütten lassen. Gestern noch war ich auf der anderen Seite gewesen, in Rampe. Was für ein Gefühl, den ganzen Weg um den Innensee herum zu Fuß gelaufen zu sein! Der Stolz beflügelte meine Schritte und verkürzte mir – zumindest gefühlt – die Strecke über Wickendorf nach Seehof.
Auf dem Campingplatz „Ferienpark Seehof“ verbrachte ich die letzte Rast meiner Wanderung. Das Wetter hatte den ganzen Tag schon „Zieh die Regenjacke an! - Zieh die Regenjacke aus!“ mit mir gespielt. Jetzt war ich es müde. Dann wurde ich halt nass. Nur noch wenige Kilometer, dann würde mich mein Mann mit dem Auto abholen und das hatte eine Sitzheizung. Also saß ich im leichten Nieselregen, zog genüsslich an meinem Dampfer und biss hin und wieder in die leckere Laugenstange aus dem Campingplatz-Shop. Dabei spürte ich abwechselnd Erleichterung und Bedauern, dass meine Wanderung nun fast zu Ende war. Rein körperlich wurde es Zeit, ich war fix und fertig nach dieser Gewaltaktion von mittlerweile fast 70 Kilometern in drei Tagen. Aber von der inneren Stimmung her hätte ich noch tagelang so weiter wandern können. Fernab vom Alltag, allein mit mir und meinen Gedanken.
Auf der letzten Etappe nach Lübstorf ähnelte die Landschaft zunehmend der Stelle, an der ich meine Wanderung um den Schweriner See begonnen hatte. Bald war ich wieder inmitten des verwunschenen, sumpfigen Bruchwaldes. Ich liebe diese morbide Schönheit, in der man das Sterben so natürlich und klar als Voraussetzung für neues Leben empfinden kann. In Lübstorf selbst gab es noch einmal ein kurzes Auftauchen aus meinem Zauberwald, doch die letzten Kilometer, bis sich der Kreis schloss und ich den Schweriner See einmal vollständig zu Fuß umrundet hatte, verbrachte ich wieder ganz allein mit der Natur.
Ich nahm Abschied. Einige Jahre hatte ich an diesem See gelebt, doch ihn erst jetzt wirklich kennengelernt. Die Schönheit dessen, was man vor der eigenen Haustür hat, nimmt man oft nicht wahr. Reisen – und ganz besonders wandern – öffnet die Augen auf eine besondere Art. Und deshalb nahm ich mir vor, von nun an auch mein Zuhause mit den Augen eines Wanderers zu sehen. Bisher ist es mir gelungen und so finde ich mittlerweile selbst auf dem Weg zur Arbeit dutzende kleiner Wunder.
Fotos zu allen beschriebenen Orten gibt es in der Galerie „Schweriner See“.